Albert Weisgerber

Retrospektive

26. März 2009 – 3. Mai 2009

Eröffnung

26. März 2009 - 19:00 Uhr

Grußwort

Christina Weiss

+++++ Text der Eröffnungsrede von Dr. Bernhard Maaz, dem Leiter der Alten Nationalgalerie Berlin, weiter unten ++++++++

Albert Weisgerber (1878-1915) gehörte zu den großen Begabungen der deutschen Kunst zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Wie August Macke und Franz Marc zählte er zu jener aufstrebenden Malergeneration, die den Weg in die Moderne wies.

Weisgerber Künstlerleben fand früh ein Ende. 1915 fiel der hochbegabte Wahl-Münchner mit nur 37 Jahren bei Fromelles in Flandern. Er schuf ein facettenreiches Oeuvre von hoher künstlerischer Qualität, das wesentliche Positionen der Moderne vom späten Impressionismus bis zu einem Expressionismus eigener Prägung durchlief.

In München, wo er studierte und bis zu seinem frühen Tod lebte, errang der Maler schon früh einen herausragenden Namen. Bekannt wurde er vor dem Ersten Weltkrieg vor allem als erster Präsident der »Neuen Münchner Secession«, einer fortschrittlichen Künstlervereinigung, die namhafte Vertreter der zeitgenössischen Avantgarde versammelte.

Auch Paris als Kristallisationspunkt der Moderne prägte sein Werk nachhaltig und gab ihm wesentliche Impulse. Weisgerber löste sich bald aus der Tradition der Münchner Malerschule. Im legendären Pariser Café du Dôme, dessen Künstlerkreis er von 1905-1907 mit Unterbrechungen fast zwei Jahre hinweg angehörte, traf er sich mit Hans Purrmann, Rudolf Levy, Jules Pascin und lernte Henri Matisse kennen.

Beeinflusst wurde der Stil Weisgerbers von den deutschen Impressionisten, unter anderem von der Malerei Manets, von Toulouse-Lautrec, von Cézanne, Hodler und Matisse. Die Auseinandersetzung mit der französischen Kunst, insbesondere die nachhaltige Wirkung der Bilder Cézannes, die Entdeckung der Kunst Hans von Marées und El Grecos, nicht zuletzt auch die Verehrung der großen Meister des Quattro- und Cinquecento waren wichtige Impulse für seinen eigenen künstlerischen Ansatz.

Die Begegnung mit der italienischen Renaissancekunst hinterließ in Weisgerbers Oeuvre ihre Spuren: Existentielle Themen von Leid und Tod, von Kampf und Überwindung rückten verstärkt in den Blickpunkt seiner Aufmerksamkeit. Figuren der biblischen Legende und des Alten Testaments wie die des Sebastians, des Propheten Jeremias oder des Absalom gestaltet er als mahnende Vorboten der Moderne.

Weisgerber, dessen Werk und Person epochale Spannungen und Brüche durchlebten, suchte eine eigenständige Position zwischen den Avantgarden. In der Vielfalt ihrer Wandlungsformen zwischen impressionistischer Sinnlichkeit und expressivem Pathos spiegelt Albert Weisgerbers künstlerische Biografie beispielhaft den künstlerischen Aufbruch einer ganzen Generation zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

Eröffnungsrede zur Ausstellung »Albert Weisgerber«
Dr. Bernhard Maaz

»Das Ringen nach Stil, will ich sagen, das verlangt Bären Kraft.« Mit so hehren Anspruchsformulierungen artikulierte sich Albert Weisgerber (1878-1915), der Maler, Zeichner, Illustrator, Mitbegründer und Präsident der Neuen Münchener Sezession. Er hatte eine Ausbildung an der Gewerbeschule Kaiserslautern zum Dekorationsmalerlehrling begonnen, was ihn später zum großen Format befähigen sollte. Es folgten Ausbildungen an der Kunstgewerbeschule und der Akademie der bildenden Künste in München, wo er die erdtonige Palette kennenlernte, der er verbunden bleiben sollte. Für die Zeitschrift »Die Jugend«, die mit ihrer linearen Ornamentik zur Namensgeberin des »Jugendstils« wurde, schuf er im Laufe von anderthalb Jahrzehnten rund 500 Illustrationen: Brotarbeiten. Sein Bewußtsein für die Bedeutung von Kontur und Dekoration dürfte sich in dieser Zeit vertieft haben. Im Jahr 1901 trat der 23jährige aus der Akademie aus. Italien- und Frankreichreisen folgten. Maßgebliche Impulse erhielt der Maler in Berlin, wo ihn 1905 die französischen Impressionisten so sehr beeindruckten, daß er, wie der befreundete Theodor Heuss berichtete, in eine profunde Schaffenskrise stürzte. Umgehend reiste er nach Paris, zu den Wurzeln des Impressionismus, wo sich freilich mit den Fauves um Henri Matisse schon wieder neue Impulse entfalteten. Nur wenig später, 1907, begegnet man dem Nachklang von James Mc Whistlers sublimem Kolorismus und sensiblen Stimmungsporträts bei Weisgerber. Seine künstlerische Vernetzung war europäisch im besten Sinne. 1908 fühlt sich der wesensoffene Künstler von der Münchener Ausstellung der Werke Hans von Marées’ ergriffen. Auch dessen Bilder einer menschlichen Existenz in paradiesischer Verklärung hinterließen Spuren in seinem Å’uvre. 1912 zeigte Weisgerber sein bislang einzige Berliner Präsentation: in der Galerie Cassirer .

Diese Fakten mochten etwas additiv erscheinen; sie sind aber überaus wichtig für das Schaffen eines Malers, das sich in eine lyrische und eine dramatische Komponente auffächert, das von einer systematischen Suche nach koloristischen Lösungen und andererseits von elementaren Themenfindungen durchwoben ist und in dem die Gattungen Bildnis und Selbstbildnis sich als Basso continuo hindurchziehen.

Weisgerber war, das mag schon deutlich geworden sein, diversen Anregungen offen. Er empfand sich aber auch als einer, der – wie eingangs zitiert – nach »Stil« rang. Er blieb ein Suchender, begeisterungs- und adaptionsfähig, der eigenen Problematik bewußt. Vielleicht war die Tätigkeit als Präsident der Neuen Münchner Sezession ab 1913 ein instinktives Ausweichen ins neutrale Gebiet der Administration. Hier stellte er Werke Max Beckmanns, Erich Heckels, Oskar Kokoschkas aus. Schon weit früher war er vertraut mit Hans Purrmann, dessen geschulter Farbsinn das Erbe Henri Matisses nach Deutschland transferierte. Er lebte in der von Stefan Zweig beschriebenen »Welt von gestern«, jenem offenen Mitteleuropa voller Austausch- und Kraftlinien. Aber seine Gestellung als Freiwilliger des Ersten Weltkriegs – noch im Sommer 1914 – mutet fast unbegreiflich an. Alle Hoffnung auf seine weitere Entwicklung wurde zunichte, als er sich im Sommer 1914 als Kriegsfreiwilliger meldete und im Mai 1915 bei Ypern in Flandern fiel: Er ließ eine offene Lebensbilanz zurück, ein fragmentarisches Lebenswerk.

Albert Weisgerber kam aus der Leibl-, Schuch- und Stuckschule Münchens her, arbeitete sich an eine hellere impressionistische Palette heran, griff französisch-fauvistische Attitüden auf und läßt sich mit seinem Lebenswerk schwer einordnen: Poetische Elemente und lyrischer Kolorismus vermischen sich zu einer Auffassung, deren Begriff bislang nicht so existiert, den man aber als einen »idealistischen Expressionismus« bezeichnen könnte: Idealistisch, weil an hohen Ideen, hohem Anspruch und der Tradition idealer Figurenmalerei festhaltend, expressionistisch wegen des Leidensausdrucks und der Leidenschaftlichkeit. Die Tonlage, die man hier vorfindet, hat in der Lyrik der Zeit ihre Parallelen: Georg Heyms und Georg Trakls elegische Poesien, ganz in traditionell-kanonischen Versmaßen gehalten, sind von ähnlicher Stimmung getragen und rekurrieren oft ebenso deutlich auf literarische und christliche Stoffe des humanistischen Bilderkanons wie die Bilder Weisgerbers.

Töne der Schwermut gehören zentral zu Weisgerbers Werk, ja sein Lebensgefühl war recht eigentlich von Beginn an elegisch: Nur 17jährig, reflektierte er 1895, daß »sich das Alter erweitert und sich die Zeit unseres Daseins verkürzt« , was skeptizistische, ja apokalyptische Anklänge heraufbeschwört: was für eine Jugend! Die Geworfenheit bleibt dem reifenden Maler dominantes Lebensgefühl, so wenn er 1906 unter dem Eindruck der Impressionisten, Cézannes und der Fauves konstatiert, sein Aufenthalt in Paris sei »ein einziger moralischer Kater, der mich aber so arg mitnimmt, daß mir manche Stunden lang alle Lust zum Malen verging« : Das »Ringen um Stil« erfordere Bärenkräfte, erinnert man sich. Das vermeintliche Scheitern warf das Befinden zu Boden. Weisgerber blieb Zweifler von hohen Graden, schwankend zwischen den künstlerischen Lagern und Vorbildern, tastend und probierend – worin auch eine Kraft lag, denn jede Konformität blieb ihm fremd und fern.

Weisgerbers idealistisches Element artikulierte sich darin, daß er auf Bildinhalte der europäischen Geistesgeschichte zurückgriff wie etwa auf die Themen des »David und Goliath«, des »Klagenden Jeremias« und besonders häufig des »Heiligen Sebastian«. Er verband diese menschheitlichen Sujets mit der künstlerischen Sichtweise seiner Zeit. Das machte diese Werke eigenwillig, mitunter sperrig, aber höchst individuell und aufschlußreich.

Die Malerei der Düsseldorfer Schule hatte sich mit alttestamentarischen Themen wie den »Klagenden Juden« befaßt. Derartige Klage-Themen sind spätestens seit Rogier van der Weydens ergreifender »Kreuzabnahme« im Prado stets als künstlerische Ausdrucks- und Emotionsstudien zu lesen, die das Lebensschicksal mehr oder minder autobiographisch behandeln und die der Mimik und Gestik einen enormen Identifikationsgehalt beimessen. Weisgerbers »Jeremia vor dem Zug in die babylonische Gefangenschaft« hat eine gestische Ausdrucksintensität, die an Wilhelm Lehmbruck gemahnt, und eine fragil-verletztliche Oberfläche, die Dubuffet vorwegnimmt.

Mit »David und Goliath«, einem namentlich aus der italienischen Renaissance wohlbekannten Thema, behandelt er vordergründig herkömmliche Themen, nämlich das Verhältnis von Stärke und Schwäche, von Redlichkeit und Macht. Hinter der Themenwahl steht, was sein Freund, der Kunstschriftsteller Wilhelm Hausenstein, als Weisgerbers »moralische Lauterkeit« bezeichnet hat, nämlich eine Frage nach der Gerechtigkeit, wie sie nur jemand zu stellen vermag, der das Problem persönlich erfahren hat.

Mit dem Sujet des »Hl. Sebastian« befaßte Weisgerber sich immer und immer wieder: Verletztlichkeit, Nacktheit und Ausgestelltheit korrespondieren miteinander, Gebundenheit und Ohnmachtserfahrungen bedingen einander, Agressivität und Teilnahmslosigkeit der Außenwelt steigern einander. Doch in den Sebastians-Darstellungen klingen auch rein künstlerische Aspekte nach, insbesondere eine facettenreiche Cézanne-Rezeption: Wo der Franzose sich mit Badenden auf Lichtungen befaßt, wählt der Deutsche allerdings eine Leidensfigur im Waldesdunkel.

Weisgerber blieb mit dieser Motivwahl nicht alleine. Sein Generationsgenosse Heinrich Linzen malte ebenfalls einen »Sebastian«, auf dem sich der Märtyrer gesenkten Blicks präsentiert und die Verletzlichkeit des athletischen Leibes demonstriert. Solche im Vor- und Umfeld des Ersten Weltkriegs noch häufigeren Rückgriffe auf die traditionelle Ikonographie können hier nicht betrachtet werden, spiegeln aber das damals neue Verständnis von «Historienmalerei«, deren Anliegen es wurde, menschliche Grundfragen zu berühren.

Die Malweise Weisgerbers lebt von der Zersplitterung der Farbe. Die Palette ist meist erdig und gipfelt oft in einzelnen kräftigeren Tönen, die mitunter etwas überraschend in der stilleren Umgebung stehen. Sein Pinselduktus bleibt auffällig variabel, ja ungerichtet. Der Farbauftrag schwankt zwischen Pastosität und Lasur, zwischen Körperlichkeit und Transzendenz. Malerische und zeichnerische Behandlung wechseln sich unversehens ab. So entsteht eine inhomogene, brüchige Wirkung. Die Bildoberfläche bleibt Experimentierfeld, auf dem man sogar Auskratzungen begegnet. Das »Ringen nach Stil« findet auf der Leinwand statt.

Weisgerber las Balzac, Dostojewski, Goethe, Nietzsche, Wedekind. Im Atelier hingen Reproduktionen nach Giorgione, Leibl, Menzel und Velazquez. Sich an allem zu messen lähmt, weil historische Übermacht eigene Kräfte relativiert. Im hoffnungsträchtigen Alter von 32 Jahren nagten schwere Zweifel in ihm: »Nie in meinem Leben fühlte ich mich wie jetzt. Ists das Alter? Alle Illusionen verdunsten mir, und die eklige Nüchternheit grinst mich überall an.« Seinem Skeptizismus gab Weisgerber in den Selbstbildnissen Ausdruck. Als besonders auffälliges Bildelement sei erwähnt, daß die Augen oft ohne Glanzlicht blieben, daß sie also blicklos und zurückgezogen erscheinen. Verräterisch ist auch die zuweile matte Gestik der Selbstporträts. Und bei seinen ganzfigurigen Bildnissen fällt auf, daß die Füße gelegentlich weggeschnitten wirken – welch aussagestarkes Bildelement, das den mangelnden festen Stand auf Erden anzeigt.

Gleichsam eine Gegenwelt zur Realität artikuliert sich in Weisgerbers diversen Akten in Wäldern, licht- und lufthungrige Figuren. Dieses Arkadien wurde als Gegenmodell zur Apokalypse anderer Bildmotive gesucht. Weisgerber blieb zwischen den Impressionisten und den Expressionisten auf der Frontlinie und plazierte schroffe Figuren in lieblicher Natur. Sein Idealismus aber brachte ihm Sympathisanten ein, von denen er gar nicht wußte: Der Münchener neoklassizistische Bildhauer Adolf von Hildebrand schrieb kurz nach dem Tod des Malers an Kronprinz Rupprecht von Bayern: »Heute las ich auch vom Tod des hiesigen Malers Weisgerber bei Ypern. Das soll ja solch ein begabter Kerl gewesen sein. Vor 70 war es möglich, solche Leute auszuscheiden, wie es auch mir geschah – welche Gründe hatte man eigentlich nachher, diese Möglichkeiten aufzuheben.« Er wußte freilich nicht, daß Weisgerber als Freiwilliger in den Kampf gezogen, daß der Weltbürger – wie so viele andere – ins Nationalistische zurückgefallen war.

Ein Jahr später gab es eine Weisgerber-Retrospektive in München. Hildebrand berichtete dem gleichen Briefempfänger über die Werke: »Es ist ein sehr ernstes Ringen darin und einige der letzten Arbeiten [sind] von ganz besonderem Zauber. Weitaus das Beste, was sich seit Marées durchzuringen suchte. Unfertig, aber es handelt sich um ein Höchstes und auf dem besten Weg, es ganz zu erreichen.« Sensibel spürte Hildebrand in den Gemälden des Verstorbenen jenes eingangs erwähnte »Ringen« des tastenden Malers. Auch andere Autoren wie Gustav Pauli konstatierten, durch den frühen Tod »wurde eine Entwicklung abgeschnitten, von der seine Altersgenossen vieles erwarteten. Sicherlich war er eine glänzende, insonderheit auch koloristische Begabung.«

Weniger wohlwollend fauchte Paul Klee in seinem Tagebuch über die Neue Sezession München und über deren Köpfe Hausenstein und Weisgerber: »Wer ist Weisgerber? Das verstand ich nie und werd ich nie verstehen.« Und doch ging eben dieser Paul Klee 1916 zum »Eröffnungsfest der Weisgerber-Ausstellung« und erwies ihm postume Ehrerbietung. Klees künstlerische Ironie und Weisgerbers ernsthafte Streben versöhnten sich solchermaßen: hier trafen sich die Facetten eines schillernd-suchenden Aufbruchs in die Moderne des 20. Jahrhunderts.