VIRTUAL BORDERS + + + travelling lightly + + + station II

Ein internationales Video Projekt von Claudia Brieske und Leslie Huppert

23. August 2012 – 16. September 2012

Eröffnung

23. August 2012 - 19:00 Uhr

Grußwort

Henry Bren d'Amour, Vertretung des Saarlandes beim Bund in Berlin

Einführung

Kathrin Becker, NBK, Berlin

+ + + Texte der Einführung von Kathrin Becker und des Grußworts von Henry Bren d’Amour, Vertretung des Saarlandes beim Bund in Berlin, nach der Ausstellungsinformation weiter unten + + +

Grenzen sind Konstruktionen, Trennwerte, imaginäre Linien, die zwei unterschiedliche, aber nahe beieinanderliegende oder verwandte Bereiche voneinander trennen.
Das eigentliche Problem von Grenzen ist, dass sie auf- und abwerten. Hier und dort, innen und außen, selbst und andere, vertraut und fremd erscheinen selten als gleichwertige Positionen und meist als hierarchisierte Paare, entweder erlaubt oder verboten, weiblich oder männlich, schwarz oder weiß, legal oder illegal, real oder virtuell.
Weil Grenzen nicht abzuschaffen sind, sollten sie gestaltet und in ihren Einteilungsmechanismen kritisch untersucht werden. Dies versuchen die beiden Künstlerinnen mit ihrem Projekt.

Virtual Borders ist ein fortlaufendes Projekt mit verschiedenen Stationen an unterschiedlichen Orten. Die erste Station war die Feste Dilsberg, eine mittelalterliche Schlossruine in der Nähe von Heidelberg, die zweite wird die Saarländische Galerie in Berlin sein. Es wurden per Aufruf im Internet Künstler und Künstlerinnen aus aller Welt eingeladen, sich an dem Projekt zu beteiligen. Die Teilnehmer wurden gebeten Videos, Animationen und Klänge zu schicken, die sich mit dem Thema Grenzen beschäftigen. Das Konzept ist offen für alle künstlerischen Interpretationen.
Weitere Informationen zu Projekt und den beteiligten Künstlerinnen und Künstlern finden Sie unter: http://www.virtual-borders.net

Einführung von Kathrin Becker

Meine Damen und Herren,

ich begrüße Sie herzlich zur Eröffnung der Ausstellung Virtual Borders. Travelling lightly. Für die meisten von Ihnen wird die Art der Präsentation recht eigenwillig sein: Die Monitore mit den Videoarbeiten hängen an einem Baugerüst, das sich durch drei der Räume der Saarländischen Galerie zieht, wie eine Art Grenze, die den Ausstellungsraum durchtrennt. Die Art der Präsentation entwickelt so einen engen Bezug zum Thema des Projekts, dem Thema der Grenze. Claudia Brieske und Leslie Huppert, Kuratorinnen und Teilnehmerinnen an der Ausstellung, verglichen das Baugerüst auch mit einem lebenden Organismus: Monitore werden zu Augen, aber auch zu Fenstern, zu Einblicken in die verschiedenen Welterfahrungen und Erkenntnisse in der künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Thema Grenze.

Die unkonventionelle Präsentation und der experimentelle Umgang mit den bewegten Bildern haben bereits zwei Vorläuferprojekte, die sich mit unserer heutigen Ausstellung verzahnen. Ihren Anfang nahm die Sache schon vor mehr als zehn Jahren, als die fünf Künstlerinnen und Künstler Monika Bohr, Claudia Brieske, Leslie Huppert, Fezi Konuk und Gertrud Riethmüller 2001 das mehrdimensionale Internet- und Ausstellungsprojekt »Gegenort – The Virtual Mine“ ins Leben riefen. Ausgehend von der stillgelegten Schachtanlage in Neunkirchen / Saar wurden mittels »virtueller Bohrungen«, die quer durch die Erdkugel zu zehn „Abbauzonen“ – u. a. in Japan, Australien, French Polynesia und Brasilien – vordrangen, neue Energieressourcen in Form künstlerischer Konzeptionen und Ideen über E-Mails und Videokonferenzen diskutiert und zu multimedialen Installationen weiterentwickelt, die sich im Sommer 2001 in der Schachtanlage materialisierten.

Das Nachfolgeprojekt »Virtual Residency – Aufruf zur virtuellen Völkerwanderung ins Musterhaus Europa«, das als europäisches Internet- und Ausstellungsprojekt zu Themen wie individuelle und kollektive Migration sowie Ausgrenzung und Vernetzung in einer globalisierten Welt Stellung nahm, arbeitete mit der gleichen Methodik und wurde mit polnischen, französischen, luxemburgischen und deutschen Projektpartnern im Rahmen von „Luxemburg und Großregion, Kulturhauptstadt Europa 2007“ realisiert.

Diese beiden ambitionierten Großprojekte liefern die inhaltlichen wie formalen Voraussetzungen für die Ausstellung „Virtual borders. Travelling lightly“. „Virtual borders“ ist ein fortlaufendes Projekt, das sich ständig weiterentwickelt und zu unterschiedlichen Schauplätzen wandert, sich dabei in Bezug auf die Werk- und Künstlerauswahl wie auch die Art der Präsentation jeweils verändert. Dies deutet sich schon im zweiten Teil des Titels an: »Travelling lightly«: Die Ausstellung reist sozusagen mit leichtem Gepäck und passt sich an die Bedingungen des jeweiligen Ortes an.
Seine erste Station hatte „Virtual Borders“ während einer Nacht im Mai 2012 in der Feste Dilsberg, einer hochmittelalterlichen Bergfeste östlich von Heidelberg im Rhein-Neckar-Kreis. Nach einem weltweiten Aufruf an KünstlerInnen, sich mit Videoarbeiten, Animationen und Soundarbeiten zu beteiligen, die thematisch mit dem Thema der Grenze verbunden sind, verließ die erste Station von „Virtual Borders“ – wie die Vorläuferprojekte – die Grenzen des White Cubes und zeigte die Bewegtbildarbeiten der ProjektteilnehmerInnen als Großprojektionen auf den Mauern der Feste und des Kommandantenhauses, einige auch auf Monitoren in Innenräumen. Erneut ist das Internet dabei Werkzeug zur Diskussion zwischen den KünstlerInnen, die die engen Grenzen Europas wieder weit hinter sich lassen. Manche Videoarbeiten von „Virtual Borders“ haben bereits existiert, andere wurden speziell für das Ausstellungsprojekt entwickelt.

Heute abend geht „Virtual Borders“ in seine zweite Runde und ist noch bis zum 16. September hier in der Saarländischen Galerie zu sehen. Die KünstlerInnen reflektierten erneut die Möglichkeiten der Präsentation und fanden in dem Baugerüst ein ideales Display. Die Arbeiten der Ausstellung sind teilweise als Projektionen, teilweise auf verschiedenformatigen Monitoren und Flatscreens integriert in das Baugerüst zu sehen, das ihnen als Display und räumlicher Grenzkörper eine zusätzliche Bedeutung verleiht.

Die Grenze (englisch border) taucht oft im Verbund mit dem Phänomen der menschlichen Siedlung und im Zusammenhang mit territorialen Ansprüchen auf, sie erweckt die Illusion einer Schutzfunktion dieser Territorien. Das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein von Grenzen hängt von kulturellen, sozialen, politischen, ökonomischen und religiösen Hintergründen ab, die – wie hier in der ehemaligen Mauerstadt Berlin überdeutlich wurde – mitunter unveränderlich erscheinen, aber extrem wandelbar sind. Die KünstlerInnen entschieden sich im Ausstellungstitel, die Grenzen als „virtuell“ zu bezeichnen, um zu verdeutlichen, das Grenzen häufig auf Konstruktionen beruhen, die die Wirklichkeit verschleiern und überlagern. Grenzen werden in „Virtual borders“ in weitestem Sinne verstanden, es geht um die „Mauern im Kopf“ und um Grenzen zwischen Ländern und Kontinenten genauso wie um den Gartenzaun als Grenzziehung zwischen zwei menschlichen Behausungen, um natürliche Grenzen wie Flüsse, Täler und Berge, um soziale Grenzen und Barrieren, um religiöse und kulturelle Grenzen, genauso wie um Grenzen zwischen Rassen und Geschlechtern, zwischen Körper und Seele/Geist, zwischen Leben und Tod.

Diese Grenzkonstruktionen werden von den KünstlerInnen des Projekts kritisch reflektiert, sei es durch die Befragung der Geschlechtergrenzen im Werk von Justin Time, die sich in ihrem Video „Alter Egos“ als zweigeschlechtliches Paar inszeniert, das einen heftigen Ehekrach hat, oder die indische Künstlerin Manola Gayatri Kumarswamy, die in der in Srinagar realisierten Performance „Veil of Kashmir“ die Grenzen zwischen den Geschlechtern zum Verschwimmen bringt, und darüber hinaus auf reale Konflikte in dem Grenzgebiet zwischen Indien und Pakistan verweist. Der Aspekt der Gewalt zur Verteidigung von Territorien realisiert sich in ganz anderer Weise auch in der Arbeit der amerikanischen Künstlerin Carol Hummel „My name is Dave and I like guns“, die männliche Jugendliche in Ohio beim blindwütigen Schießen in ein Waldstück zeigt. Die Auswahl der Arbeiten vereinigt unterschiedlichste künstlerische Ansätze im Umgang mit dem Medium Video: Von Videoperformances über narrative Ansätze und Dokumentationen bis zu Animationen und poetischen Videowerken. Genauso vielfältig ist auch die Art der Präsentation in der Saarländischen Galerie!

Obwohl ich angesichts der Vielzahl von Arbeiten nicht auf alle Ausstellungsbeiträge eingehen kann, möchte ich exemplarisch noch einige weitere Werke kurz erläutern, stellvertretend für die Verschiedenartigkeit von künstlerischen Auseinandersetzungen mit dem Thema der Grenze.

Die Künstlerin Claudia Brieske entwickelt ortsspezifische Video- und Klanginstallationen, bei denen die Beziehung zwischen Klang, Bild und Bewegung eine besondere Bedeutung hat. Als Grenzgängerin zwischen den Disziplinen arbeitet sie über den Kontext der Bildenden Kunst hinaus auch an Theaterproduktionen und nahm an diversen Festivals für Neue Musik teil. Ihr Ausstellungsbeitrag „Liquid Souls“ geht von Wasser als Grenze aus und basiert auf einer 2011 im Rahmen der Donaueschinger Musiktage entwickelten rauminstallative Stimminszenierungen und einer an den Klang getakteten Bildkomposition. Ihre bildgewaltige Videoarbeit in der Ausstellung »Virtual Borders« verweist auf einen Austausch zwischen zwei Menschen, die gleichzeitig merkwürdig getrennt bleiben.

Leslie Hupperts künstlerische Entwicklung ist von mehrjährigen weltweiten Auslandsaufenthalten geprägt. Sie entwickelt zahlreiche partizipatorische und interdisziplinäre Projekte im Bereich von Multimedia-, Internet- und Videokunst, die sich in einem interkulturellen gesellschaftspolischen Kontext realisieren. Aber sie ist auch als Malerin und Zeichnerin tätig und verbindet mitunter ihre unterschiedlichen Ausdrucksmitteln in großen Installationen miteinander. Ihr Werk erzählt von eigenen und kollektiven Erfahrungen und lässt einen inneren Dialog entstehen, der bereichernde Sichtweisen und Wahrnehmungsebenen freisetzt. Kommunikation ist ein wesentliches Anliegen von Leslie Huppert, der direkte Austausch mit den Betrachterinnen und Betrachtern, auch das Erreichen von Menschen außerhalb des Kunstbetriebs. So war einer ihrer Beiträge zu »Virtual Borders«, »Der Schrei« bereits Teil ihrer Installation »Transit« in einem Kleinbus an einem ehemaligen Straßenstrich im deutsch-französischen Grenzgebiet. Die bewegten Bilder wurden durch Gucklöcher im Inneren des Wagens sichtbar. »Der Schrei« geht von Aufnahmen ihres eigenen Gesichts aus, die sich gegenseitig immer wieder überlagern und – begleitet von sprachlichen Äußerungen – zu einem Schrei entwickeln. Die suggestiven Bilder erzählen von menschlicher Identität, von inneren Grenzen und menschlichem Leiden, aber auch von dem Bedürfnis nach Mitteilung und Kommunikation, vom Durchbrechen der Grenze zwischen Menschen.

Greta Mendez’ Projektion entwickelt einen Bezug zur Kunstgeschichte, zu John Everett Millais Gemälde »Ophelia« von 1852, das die gleichnamige Figur aus Shakespeares Tragödie »Hamlet« in einem Fluss treibend darstellt, kurz bevor sie ertrinkt. Mendez nutzt in ihrem Video die Figur der Ophelia als Metapher für die Kaschmir-Region. Die Künstlerin ist in Trinidad geborenen und lebt in England, für die Realisation der Arbeit mit dem Australier Mat Koenig ist sie nach Kaschmir gereist, an einen Ort, der einmal als »Paradies auf Erden« bezeichnet wurde und die Menschen seit 1947 in gewaltsame Konflikte um Staatsgrenzen und Machtansprüche involviert. Mendez zieht das tragische Schicksal der Ophelia heran, um das Thema der Depression und des Selbstmordes zu versinnbildlichen, als Ausdruck einer verlorenen Hoffnung im Jahrzehnte dauernden Konflikt. Ihre Ophelia treibt im See von Srinagar, mit den Flaggen von Indien und Pakistan in ihren Händen eingeschrieben.

Wir sind „Ein Künstler in zwei Körpern“ sagen Ingrid Mwangi und Robert Hutter. Das Künstler- und Ehepaar Ingrid Mwangi, geboren in Nairobi, und Robert Hutter, geboren in Ludwigshafen, verschmolz 2005 zu einer einzigen künstlerischen Persönlichkeit, dem Künstlerkollektiv IngridMwangiRobertHutter. Als solches sieht es sich als ‚New Media Artist‘ zwischen Video, Klang, Installation, digitaler Fotografie und Performancekunst, behandelt vor allem Fragen der Identität, der ethnischen, wie der kulturellen und sozialen. 2012 entstand die Arbeit „Dandora Pool“. Dandora ist ein Ortsteil von Nairobi, Kenia, und die größte Müllkippe Afrikas. Die „Dandora Dumping Site“ ist Lebensfundament für 2500 Menschen, obwohl die Kippe vom unabhängigen New Yorker Blacksmith Institute als einer der am stärksten verschmutzen Orte dieser Welt gilt. In der Arbeit von IngridMwangiRobertHutter umrundet die Kamera im 360 Grad-Modus – begleitet von Fliegengesumm – eine Gruppe von jungen Männern, die unter einem selbst gebauten Sonnendach inmitten des Mülls Poolbillard spielen.

Geboren in Kaschmir und mit Wohnsitz in Dehli arbeitet der Konzept- und Performance-Künstler Inder Salim bereits seit 25 Jahren im Feld der zeitgenössischen Kunst. Das Performancevideo in der Ausstellung entstand 2011 während eines Stipendienaufenthaltes in Berlin im Rahmen des von Inder Salim und Silke Kästner initiierten Austauschprojekts «Kashmir.Points.Charlie“ mit Künstlern aus Kaschmir und Berlin. Das Video zeigt den Künstler vor einem Computermonitor bei der Internetsuche nach einer Karte seiner Heimatregion, der Konfliktregion Kaschmir. Auf den Glastisch vor sich malt Salim mit weißem Puder die Karte Kaschmirs nach, um dann anschließend die von ihm angefertigte „Landkarte“ sanft wegzupusten.

Mit diesen Ausführungen möchte ich Sie jetzt gern zu einer Entdeckungsreise durch die Ausstellung „Virtual Borders“ einladen. Bitte versäumen Sie es auch nicht, einen intensiven Blick in den linken Raum der Galerie zu werfen, in der zusätzlich zu zwei Videoarbeiten noch Zeichnungen der Künstlerinnen Leslie Huppert und Claudia Brieske zu sehen sind, die teilweise während ihre Stipendiums auf der Feste Dilsberg entstanden sind.

Grußwort von Henry Bren d‘ Amour, Vertretung des Saarlandes beim Bund in Berlin

Liebe Freunde der Saarländischen Galerie,

(…) ein Projekt wie »Virtual Borders«hat natürlich zunächst einmal faktische Grenzen. Die für unser Saarland wichtigste wird durch die Finanzlage gesetzt. Doch hier zeigt sich die Relativität von Grenzen. Eigentlich eine Binsenweisheit, denn wenn sie menschengemacht sind, können sie nie absolut sein. Und so würde dieses Finanzierungsproblem bei der heutigen Präsentation der diversen Installationen nur dann bestehen, sofern es keine über ihre Schatten springenden, großzügigen Förderer gebe – eine zwar umgangssprachlich bekannte, jedoch dümmliche Ausdrucksweise, da der eigene Schatten stets die Grenze ist, die man nie überschreiten kann! Hier sind heute zwei solcher Sponsoren nennen. Immer wie immer Dadja Altenburg-Kohl mit Kohlpharma sowie ein saarländisch geprägtes Unternehmen aus Berlin, die Firma Gerüstbau Tisch. Beiden möchte ich vielmals für die engagierte Unterstützung danken.

Als ich vorgestern bei Staatssekretär Jürgen Lennartz in Saarbrücken war, trug er mir auf, Sie alle ganz herzlich von ihm zu grüßen. Um beim Thema »Virtual Borders« zu bleiben, er bedauert, dass für ihn seine Arbeitsbelastung eine Grenze darstellt. Er kann heute Abend nicht mal eben zur Vernisage von Saarbrücken nach Berlin kommen. So stehe ich an seiner Stelle hier und will noch jemanden besonders von ihm grüßen. Es sind die vielen saarländischen Ehrenamtlichen, die uns den Betrieb der Galerie hier ermöglichen. Und es sind Sie, liebe Andrea Weber, die Sie mit Ihrer Arbeit für den Erfolg unserer Galerie stehen. Herzlichen Dank dafür!

Meine Damen und Herren, was kann ich als Mensch der Politik und Verwaltung, zu dieser Vernissage noch sagen, was die Fachkundigen nicht gleich noch viel besser sagen werden und können? Eine schöne Möglichkeit bietet sich an, die ich bisher schon bei der allgemeinen Begrüßung fortwährend genutzt habe. Es ist das Aufgreifen des Titels »Virtual Borders«. Er lädt dazu ein, ihn auf jenes auszudehnen, was man selbst als nicht reale, geistige Grenzen erlebt. Die Assoziationen bei einem solchen Verständnis von Grenzen sind im Alltag und in meinem Berufsleben mannigfaltig:

Lassen Sie mich mit meinem Grenzverständnis in jener Wirklichkeit beginnen, die wir politisch nen-nen, und die deshalb – möglicherweise – auch als virtuell bezeichnet werden sollte.
Also, die Realität politischer Grenzen ist im Saarland offenkundig: Denn das Saarland mit seinen Nachbarn Luxemburg und Frankreich sowie mit Rheinland-Pfalz ist ein typisches Grenzland, aber es ist eine Region, wo diese Art der Grenzen immer mehr in den Hintergrund treten. Unterstellt, dass solche Grenzen wirklich existieren, würde also diese fassbare Wirklichkeit dem Unfassbaren, sozusagen einem Tagtraum, weichen. Reales wird virtuell – eine faszinierende Vorstellung, erst recht, wenn man diesen Prozess sich auch in umgekehrter Richtung vorstellen kann: Virtuelles wird real. Das ist genau der Weg, den Künstler mit ihren Werken versuchen, die Materialisierung des Gedankens, des Gefühls und der Wahrnehmung und letztlich der Wahrheit hinter den Dingen. Dieses Thema haben die Künstler mit den Theologen und den Philosophen gemein. Ohne hier näher auf diesen spannenden Aspekt eingehen zu können, sei doch zumindest daran erinnert, dass dieser Art der Materialisierung auch die langwierige Geburt der abstrakten Kunst entsprach, also der Kunst solcher Persönlichkeiten wie Adolf Hölzel und Wassily Kandinsky. Aber damit komme ich, wie man so schön sagt, vom Hölzchen aufs Stöckchen. Denn der nächste Gedanke führt mich wie von selbst zur Gegenüberstellung von darstellender und abstrakter Kunst. Ob es wohl eine Grenze zwischen den beiden gibt? Verlockend, auch darüber nachzudenken. Doch das ist nichts für jene Worte der Begrüßung, die ich hier zu sprechen habe.

Deshalb zurück von diesen theoretischen Überlegungen hin zum Konkreten, d. h. zum Saarland. Es fällt mir ein, dass wir ein Land sind, mit Spuren von gefallenen Grenzen. Hiervon zeugt der Ortsname Kohlhof. Zu Neunkirchen zählt der Ortsteil Preußisch Kohlhof und zur Nachbargemeinde Limbach der Ortsteil Bayrisch Kohlhof. Von 1816 bis 1918 verlief hier die Grenze zwischen dem Königreich Preußen und dem Königreich Bayern. Heute ist es nur noch eine Grenze im Gedächtnis der Geschichte. Ich wünsche mir, dass sich diese Metamorphose auch bei der Mauer in den Köpfen und Herzen in Berlin vollzieht.

Ganz typische Grenzen sind im Saarland darüber hinaus die Sprachgrenzen. Da ist zum einen die deutsch-französische Sprachgrenze, die unsere Politik versucht durchlässig zu machen, und da ist zum anderen die regionale Abgrenzung, die durch die unterschiedlichen Dialekte entstehen, dem moselfränkischen und dem rheinfränkischen. Dies ist eine sehr lebendige Grenze, da natürlich die Menschen aus beiden Regionen im alltäglichen Miteinander auch in der jeweils anderen Sprachregion verkehren. Moselfränkisch ist übrigens eine Sprache, die auch noch jenseits der Sprachgrenze zwischen Deutschland und Frankreich im französischen Lothringen angetroffen wird, die dort aber unter den Augen des zentralistischen Staates, so will mir scheinen, zum Aussterben verurteilt ist. Sie ist also sozusagen eine sterbende Grenze zu Gunsten der größeren Einheit eines sich hierüber definierenden und abgrenzenden zentralstaatlich geprägten Kulturselbstverständnisses.

Nicht, dass hier aufgrund der bisher erwähnten Grenzen ein falscher Eindruck über unser Saarland entsteht. Eher das Gegenteil ist der Fall, denn es ist im Prinzip ein Land der grenzenlosen Möglichkeiten, zwar noch kein Schlaraffenland, aber kurz davor. Im Saarland hat man Lebensart, d. h. für uns und unseren Optimismus ist das Glas immer eher halb voll als halb leer. Jene, die das anders sehen, gehören zwar nicht zu uns, die grenzen wir aber trotzdem nicht aus, sondern laden Sie ein, von uns zu lernen und es uns gleich zu machen.
Insoweit ist es immer wieder wohl tuend, ins gastliche Saarland zu reisen. Das gehört zu meinen schönsten Dienstpflichten als saarländischer Landesbeamter. So bin ich erst vorgestern und gestern wieder dort gewesen. Dann schlendere ich zwischen meinen Terminen in Saarbrücken durch die Stadt und ganz besonders gerne durch die dortige Kunstszene. Da man in unserer Landeshauptstadt aus irgendwelchen Gründen gerade mal kein Kunstmuseum des Landes besuchen kann, führte mich jetzt zwischendurch der Weg durch Galerien und Antiquariate. In dieser interessanten privaten Kunstszene konnte ich dann wieder einmal feststellen, dass man bei uns im Saarland auch beim Thema Kunst grenzenlos fündig wird. So entdeckte ich dort eine Graphik von George Grosz. Und da sie den schönen Titel hatte »An der Grenze« und mir gefiel sowie ihr Preis vertretbar war, erwarb ich sie im Hinblick auf mein heutiges Grußwort hier im Palais am Festungsgraben. Denn darin steckt viel Symbolik zum Thema Grenze: Wer kann schon eine immaterielle Grenze erwerben, die sich auf einem Stück Papier materialisiert? Wer kann schon eine Grenze aus dem Saarland an einem anderen Ort vorführen, also eine Grenze, die sich von der Saar an die Spree transportieren lässt? Insoweit ist mein nicht kuratierter Beitrag zu »Virtual Borders«, dass ich George Grosz Grenze aus meiner Landeshauptstadt nach Berlin mitgebracht habe. Hier in der Bundeshauptstadt ist es ja in den letzten Hundert Jahren noch nie ungewöhnlich gewesen, durch Grenzwertiges zu versuchen, kulturelles Profil zu zeigen, so dass ich nunmehr als saarländischer Repräsentant Sie, liebe Gäste, ganz im Stil von Berlin provokativ mit einem Sujet von Georg Grosz konfrontiere, das typisch für ihn ist: Dies hier ist seine kleine Graphik »An der Grenze«.

Der Thematik Grenze, der die heutige Ausstellung mit Videokunst gewidmet ist, dürften sich die bildenden Künste wahrscheinlich schon immer bemächtigt haben. Davon zeugt auch das Werk von Horst Antes, dessen Bilder Ihnen sicherlich geläufig sein werden. Es sind die von ihm »Kopffüßler« genannten, körperlosen Gestalten, bei denen der Kopf auf den Füßen sitzt. Es sind Menschen, die auf den Verstand und die Mobilität reduziert oder konzentriert werden. »Bedeutet dies eine Begrenzung oder eine Entgrenzung?« können wir uns fragen.

Ein solcher Kopffüßler mit zwei Augen hängt direkt hinter dem Schreibtisch des Chefs der Staats-kanzlei, von Staatssekretär Lennartz. Statt nur eines Zyklopenauges besitzt dieses Wesen zwei Augen. »Verstand ohne Mobilität geht nie«, spricht aus ihnen. Vor dem Gemälde sitzt Jürgen Lennartz und lässt die beiden Augen des Kopffüßlers auf seinen Vertreter in der Bundeshauptstadt schauen. Sie weisen diesem schweigend seinen Weg. Sie sprechen visuell, entziehen sich dem Klang der Sprache und überwinden dadurch eine Grenze. In diesem Moment sagen die Augen, dass der Besucher im Zimmer des Chefs der Staatskanzlei nicht vergesse, der Ausstellung »Virtual Borders« den verdienten Erfolg zu wünschen.